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Geschichte

von Linus Hüsser

Streifzug durch 5000 Jahre Wittnauer Geschichte

Die Siedlungsgeschichte Wittnaus lässt sich bis in die Jungsteinzeit zurückverfolgen. In der anschliessenden Epoche, der Bronzezeit, entstand die in Fachkreisen über die Landesgrenze hinaus bekannte Höhensiedlung auf dem Horn; die Eisenzeit ist u.a. mit einem einst 6 Meter hohen und 28 Meter breiten Grabhügel auf dem Buschberg vertreten, und unter dem Areal des Dorfkerns erzählen Mauern von einem römischen Gutsbetrieb. Noch immer rätselhaft und historisch nicht klar einzuordnen sind die künstlichen Erdbewegungen auf dem Reichberg. Dafür zeugen spektakuläre Funde aus der Ruine Homberg vom Leben auf einer mittelalterlichen Burg. Und dann gab es ja noch gegen Kienberg hin den sagenumrankten Heimatlosenplatz, bis 1931 ein rechtsfreier Raum, 63 Aren Niemandsland, dessen Ursprung wohl immer ein Geheimnis bleiben wird. Weitherum bekannt sind die als Kraftort bezeichnete Wallfahrtskapelle auf dem Buschberg und das Fasnachtsfeuer. Kurzum: Nur wenige Gemeinden können mit derart vielen „Merkwürdigkeiten“ aufwarten, um einen treffenden Begriff aus dem 19. Jahrhundert zu bemühen, wie Wittnau. Die älteste Nennung des Ortsnamens geht auf das Jahr 1212 zurück. Das 800-Jahr-Jubiläum der Ersterwähnung bietet Gelegenheit für einen Streifzug durch die Vergangenheit des Dorfes.

Beliebter Siedlungsplatz

1995 stiessen Archäologen am Huttenweg auf menschliche Spuren aus der Jungsteinzeit. Vielleicht waren es Bauern, die hier zumindest vorübergehend siedelten. Aufschlussreicher erwies sich die Hinterlassenschaft von Menschen der Mittleren Bronzezeit (1500–1300 v. Chr.). Ob beim Huttenweg einst ein Gehöft oder ein ganzes Dorfes stand, ist ungewiss. Anzunehmen ist, dass die Bewohner Ackerbauern und wohl auch Viehzüchter waren. Der gefundene Teil einer Sichel passt in dieses Bild. Etwa 300 bis 400 Jahre später entstand die bronzezeitliche, befestigte Höhensiedlung auf dem Horn. Spätbronzezeitliche Funde von etwa 1000 v. Chr. wurden auch im Umfeld der Kirche entdeckt.

Dass das Tal zur Römerzeit landwirtschaftlich intensiv genutzt wurde, belegen Gebäudereste eines weitläufigen Gutshofes im Gebiet des Dorfkerns. Das Hauptgebäude stand im Bereich des Oberen Kirchweges. Die Archäologen datieren die Anfänge des Hofes ins 1. Jahrhundert n. Chr.. Gegen Ende des folgenden Jahrhunderts erfuhr er eine Erweiterung, doch wurde die Anlage bereits ein paar Jahrzehnten später aufgegeben. Im 3. Jahrhundert befestigten die Römer das Horn. Die Wehranlage diente wahrscheinlich als Fluchtburg für die von Alemanneneinfällen bedrohten Bewohner der Umgebung. Sie wurde im 8. Jahrhundert erneut genutzt.

Alemannischer Dorfname

Nach dem Zusammenbruch der römischen Herrschaft um 400 n. Chr. sickerten die Alemannen in die Gegenden südlich des Hochrheins ein. Sie liessen sich auch an einem Ort nieder, den sie Wittnau nannten. Obwohl hier seit Jahrtausenden Menschen leben, ist der Dorfname verhältnismässig jung. „Wittnau“ ist eine Zusammensetzung aus dem Adjektiv „weit“ und dem Substantiv „Au“. Folglich bedeutet der Name „weite Aue“, oder, etwas freier interpretiert, „beim weiten, wassernahen Land“. Auf die örtlichen Verhältnisse bezogen, bezeichnet der Ortsname ein weites Gebiet entlang eines Talbaches. Verwandt ist „Wittnau“ mit „Aarau“, „der Aue an der Aare“.[1]

Das Alter des Namens kann lediglich geschätzt werden. Die früheste Erwähnung spricht von einem „Rudolfus decanus de Witnouwe“ (Dekan Rudolf von Wittnau). Der ins Jahr 1212 datierte Text ist allerdings lediglich als Abschrift im 1516 begonnenen Copialbuch der Johanniterkommende Rheinfelden erhalten. Sprachwissenschaftler Beat Zehnder, Erforscher der Aargauer Gemeindenamen, weist die mit „-au“ endenden Gemeindenamen der zweiten alemannischen Ausbauphase, also dem 8.–11. Jahrhundert zu. Ortsnamen wie Mettau, Aarau oder Wittnau können aber auch jünger sein. Für die Siedlungsgeschichte Wittnaus kann daraus gefolgert werden, dass sich die Alemannen nach der Landnahme (5./6. Jahrhundert) und der ersten, von zahlreichen Siedlungsgründungen begleiteten Ausbauphase (spätes 6.–8. Jahrhundert) in Wittnau niederliessen. Möglich ist, dass der Ortsname erst lange nach der alemannischen Besiedlung des Wittnauertales entstand.

Fasnachtsfeuer aus vorchristlicher Zeit?

Mit Hilfe fränkischer Wandermissionare (Fridolin u.a.) setzte sich bei uns im 6. und 7. Jahrhundert allmählich das Christentum durch und beendete das „heidnische“ Zeitalter. Ist das Fasnachtsfeuer ein Relikt vorchristlicher Kulturen? Wurzelt der Brauch in der Eisenzeit, der Epoche der Kelten? Oder brachten ihn die eingewanderten Alemannen mit? Die Behauptung, dass viele Volksbräuche aus einer vorchristlichen Zeit stammen sollen, faszinierte die Menschen vor allem im 19. Jahrhundert, im Zeitalter der Romantik. Leider kennen wir die Ursprünge des Fasnachtsfeuers nicht und sie werden sich wohl auch nie zu erkennen geben, fehlen doch in der Kette der Überlieferung mehrere Glieder, um diesen Brauch bis zu seinen Anfängen zurückzuverfolgen. In Europa werden Fasnachtsfeuer ab dem 11. Jahrhundert greifbar. Dasjenige von Wittnau lässt sich ab etwa 1500 belegen, ist aber zweifellos viel älter. Tatsache ist, dass Bräuche im Laufe der Zeit einer steten Wandlung unterworfen sind. So erhielt das Wittnauer Fasnachtsfeuer durch die Erweiterung mit Feuerbildern (vielleicht im 19. Jahrhundert) seinen besonderen Charakter.[2]

Beinahe wäre dieser Brauch gestorben, als die österreichischen Landesherren aus Sorge um den Wald die Fasnachtsfeuer verboten, allerdings ohne Erfolg. Die Bemühungen der Obrigkeit, den Holzverbrauch zu reduzieren, waren allerdings berechtigt, denn die Wälder in unserer Gegend, auch in Wittnau, zeigten sich in einem katastrophalen Zustand; sie waren übernutzt und ausgebeutet. Der Wald lieferte der Bevölkerung nicht nur Brenn- und Bauholz, sondern er diente auch als Viehweide, was vor allem dem Jungwuchs schadete.

Das Eisengewerbe als wichtiger Nebenverdienst

Im südlichen Fricktal litten die Wälder schon im Mittelalter an Übernutzung. In ihnen rauchten zahlreiche Meiler, die Holzkohle für die energieintensive Eisenverarbeitung lieferten. Basis des Eisengewerbes waren die Erzgruben bei Wölflinswil. Auch die Wittnauer profitierten von ihnen. Eine Liste aus dem Jahre 1521 nennt uns 114 Erzgräber, Erzfuhrleute und Masselbläser (Eisenschmelzer), die der habsburgischen Herrschaft Rheinfelden ein Grubengeld entrichten mussten. Wenig überraschend stellte Wölflinswil mit 27 Personen am meisten Abgabepflichtige, gefolgt von Oberfrick mit 18 und Wittnau mit 16.[3]

In Wittnau wurde aus herbeigekarrtem Erz Roheisen erschmolzen. Schmelzöfen, sogenannte Bläjen, standen am unteren Abschnitt des Wölflinswilerbachs, der einst Kleyelbach genannt wurde. Kleyel soll ein anderes Wort für Bläje gewesen sein. 1424 wird in der Flur Egler eine solche erwähnt. Auch an anderen Orten Wittnaus gab es Schmelzöfen. Im Rotel weist ein Schlackenhaufen auf eine solche Anlage hin.[4] 1596 wurden in Wittnau in abseits des Kleyelbachs gelegenen Bläjen 163 Masseln (längliche Eisenbarren) Roheisen hergestellt, 1599 waren es noch 22, dann stellten die Öfen den Betrieb ein, wegen Holzmangels, wie die Rechnungsbücher der Herrschaft vermerken.[5] Der im Rahmen der Kohlenproduktion an den Wäldern betriebene Raubbau war derart fortgeschritten, dass ein Betrieb der Schmelzöfen nicht mehr zu verantworten war. Fortan führten Fuhrleute, auch jene aus Wittnau, alles Erz über den Rhein zu den Eisenwerken am Schwarzwaldsüdfuss.

Alte Gewerbebetriebe

Gewiss brachte das Eisengewerbe den Wittnauern keinen Reichtum, aber während ein paar Jahrhunderten für viele Bauernfamilien einen Nebenerwerb. Dieser war umso willkommener, als im Dorf die Verdienstmöglichkeiten ausserhalb der Landwirtschaft bescheiden waren. Gewiss gab es die für ein Bauerndorf typischen Kleinhandwerker, die nebenbei meist noch einen Landwirtschaftsbetrieb führten. Man traf sie noch im 20. Jahrhundert an. Im Zusammenhang mit dem Kirchenbau ab 1765 werden beispielsweise ein Nagelschmied, ein Gipser, zwei Schmiede und ein Steinbrecher erwähnt.

Wittnau lag nicht an einem Fluss, auf welchem man als Schiffer, Fischer oder Flösser sein Brot verdienen konnte. Durch den Ort führte auch kein bedeutender Verkehrsweg, der den Betrieb von Gaststätten, Fuhrhaltereien, Pferdestationen und anderen mit dem Waren- und Personenverkehr in Verbindung stehenden Gewerbezweigen einträglich gemacht hätte. Die alten Übergänge nach Wegenstetten, ins Baselbiet oder über die Salhöhe ins Aaretal waren Nebenrouten, die in habsburgischen Zeiten in Wittnau nicht einmal eine Zollstation erforderten. Erst 1837 beschloss die Aargauer Regierung die Errichtung eines Nebenzolls in Wittnau.[6] Als erster Zöllner amtete Gemeindeammann Josef Friker. Sein Lohn betrug 30 % der „rohen Einnahmen“. 1839 löste Jakob Hochreuter Friker ab. Die neue Zollstation provozierte die benachbarten Solothurner, deren Regierung die Errichtung des Zolls für unrechtmässig hielt. Die Aargauer Regierung berief sich jedoch auf das in die habsburgische Zeit zurückreichende „allgemeine Friktalische Staatszollrecht“. „Aarau“ betrachtete den Wittnauer Zoll als Ersatz für den 1834 aufgehobenen, jahrhundertealten Zoll in Frick. Die Wittnauer Zollstation existierte nur ein paar Jahre. Die Bundesverfassung von 1848 verbot alle schweizerischen Binnenzölle.

In Wittnau gab es kein florierendes Gastgewerbe, wie dies etwa in manchen Ortschaften entlang der Bözbergroute der Fall war. Immerhin wird 1594 eine Gaststätte erwähnt. 1633 gab es gar zwei Dorfschenken. 1699 ist erstmals von einer „Krone“ die Rede.[7] Sie stand im Dorfkern in Kirchennähe. 1801 verlieh die vorderösterreichische Regierung dem Urban Walde das Tavernenrecht für die „Sonne“. In jenen Jahren schossen im Fricktal zahlreiche Gaststätten aus dem Boden, versprachen doch die französischen Besatzungstruppen einen guten Umsatz. Die lästigen Eindringlinge waren auch Symbol für den Zusammenbruch der habsburgischen Herrschaft. 1802 fanden sich die Wittnauer im neuen Kanton Fricktal wieder, im folgenden Jahr im Aargau und somit in der Schweiz.    

Ein alter Gewerbebetrieb ist die Mühle. Die einst wohl von den Grafen von Homberg gegründete Mühle befand sich um 1380 in den Händen der einflussreichen Säckinger Bürgerfamilie Vasolt. 1401 vermachte Johann Vasolt, Kirchherr zu Murg, seiner Haushälterin einen jährlichen Bodenzins in der Höhe von 4 Mütt Kernen (etwa 400 Liter Getreide), die der Wittnauer Müller zu liefern hatte. Gleichzeitig beglückte Vasolt das Franziskanerinnenklösterchen in Säckingen mit einem jährlichen Gefälle, das u.a. aus 3 Hühnern und 40 Eiern bestand. Entrichtet wurde es ab einem Gut in Wittnau, das Heini Brogli und „der Bergmann“ bebauten.[8] Ob letztgenannter Name im Zusammenhang mit dem Eisenerzabbau entstanden war?

Ein vor der Mühle stehender, stark verwitterter Stein von 1585 trägt ein Wappen mit einem aufsteigenden Löwen, der mit einer Pranke ein halbes Wasserrad hält. Der Stein diente einer Welle des Mahlwerks oder dem Wasserrad als Widerlager.[9] Ob sich das Wappen auf eine Müllerfamilie bezieht oder auf die habsburgische Landesherrschaft (Habsburger Löwe), ist nicht geklärt. Das heutige Mühlegebäude stammt, wie auch die Mühlescheune auf der gegenüberliegenden Strassenseite, wahrscheinlich aus dem 17. Jahrhundert.[10] Ab der Mitte des 16. Jahrhunderts hiessen die Müller Schmid. Um 1760 gelangte der Betrieb in die Hände der Familie Tschudi, die ihn heute noch führt.

Müller Fridlin Schmid erbaute 1610 im Oberdorf eine zusätzliche Wasserkraftanlage: eine Hanfreibe. An ihre Stelle trat später eine Sägerei, die 1909 von den Gebrüdern Theodor und Siegfried Schmid übernommen wurde. Unterhalb der Altbachmühle betrieb Müller Benedikt Tschudi eine Sägerei und ab 1803 eine Ölmühle. 1863 kam die Liegenschaft an Jakob Studer, der hier eine mechanische Werkstätte einrichtete. Ab 1908 beherbergte das Gebäude eine mechanische Schreinerei und später eine Drechslerei, die Fadenspulen für die Heimposamenterei (vgl. unten) herstellte. Drechslerei und Sägerei gingen in den 1930er Jahren ein.

Und noch ein weiterer Betrieb nutzte die Wasserkraft: Die von den Gebrüdern Josef und Urban Walde um 1841 eröffnete Ziegelhütte. Sie besass eine von einem Wasserrad angetriebene Lehmwalze. Die Ziegelei umfasste Trocknungsräume, eine Ziegel- und eine Kalkbrennerei und unterhielt eine Fuhrhalterei. Sie schloss 1930.

Selbstverwaltung unter den Habsburgern

Die Müller gehörten in der Regel zur dörflichen Oberschicht, zur „Dorfaristokratie“ wenn man so will. Auch in Wittnau kamen Vögte bzw. Stabhalter und Kirchmeier (Kirchengutsverwalter) aus der Mühle, so die Ortsvorsteher Heinrich Schmid (+ 1665) und der 1759 eingebürgerte Clemens Tschudi (+ 1813). Im Spätmittelalter gehörten die Müller allerdings wie die Henker und Abdecker zu den sogenannten unehrlichen, vom Volk geächteten Personen. Diesen oblag auch der Galgenbau. Die einstige Verachtung dieses Berufsstandes wirkte lange nach: Als 1773 der Fricktaler Galgen zwischen Frick und Hornussen erneuert wurde, erzählte man, dass vor etwa acht Jahren ein sehr alter Mann, Heinrich Schmid von Wittnau (*1682), gestorben sei, der als junger Müllerssohn zusammen mit allen Müllern der Obervogtei beim Bau des alten Galgens mitgeholfen habe.[11]

Die Obervogtei Fricktal, auch Landschaft Fricktal genannt, bildete seit dem 15. Jahrhundert zusammen mit den Landschaften Möhlinbach und der rechtsrheinischen Obervogtei Rheintal die habsburgische Herrschaft Rheinfelden. Verwaltet wurde sie vom Oberamt in Rheinfelden, das seinerseits der vorderösterreichischen Regierung unterstand, die ursprünglich im elsässischen Ensisheim und seit 1651 in Freiburg im Breisgau residierte. 

Die Obervogtei Fricktal ging aus der Grafschaft Homberg hervor. Das Herrschaftsgebiet der bereits im 11. Jahrhundert erwähnten Grafenfamilie Homberg-Tierstein umfasste Frick und die umliegenden Ortschaften, auch Wittnau, wo die Grafen einen standesgemässen und wehrhaften Adelssitz an prominenter Lage erbauen liessen. Im 14. Jahrhundert gelangte die Grafschaft an die Habsburger, die sie später der Herrschaft Rheinfelden angliederten.

Wittnau war eine von sieben Vogteien der Landschaft Fricktal. Ihr stand ein von den Vogteivorstehern gewählter Obervogt vor. Dieser kam meist aus Frick, Herznach oder Eiken und nur selten aus Wittnau. Bezeugt ist Panthaleon Rüetschi, der 1598 das fricktalische Obervogtamt bekleidete. Unter der habsburgischen Herrschaft genoss Wittnau als Vogtei einen hohen Grad an Selbstverwaltung, die in gewissen Bereichen über die heutige Gemeindeautonomie hinausging. An der Spitze der Vogtei stand ein von den männlichen Bürgern gewählter und vom Oberamt in Rheinfelden eingesetzter Vogt. Das Amt wurde meist, wie bereits erwähnt, Angehörigen aus der Oberschicht, also wohlhabenden Bauern, Müllern und Wirten übertragen.

Dem Dorfoberhaupt zur Seite standen zwei bis drei Geschworene. Auch sie wurden von den Bürgern gewählt. Im Verlaufe des 18. Jahrhunderts wird, wie in einigen anderen Dörfern auch, ein Bürgermeisteramt geschaffen. 1759 trug Heinrich Treier den Titel eines Bürgermeisters von Wittnau. Welche Rechte und Pflichten ihm zukamen ist nicht klar ersichtlich, ebenso seine Stellung gegenüber Vogt und Geschworenen.

Ein wichtiges Gremium war das zwölfköpfige Vogteigericht. Die Verhandlungen leitete der Vogt, er führte den Gerichtsstab und wurde deshalb auch Stabhalter genannt. Das mit niedergerichtlichen Kompetenzen ausgestattete Gericht befasste sich zu einem grossen Teil mit Fertigungsgeschäften, nahm also notarielle Funktionen wahr. Daneben urteilte es bei kleineren Straftaten. Frei gewordene Richterposten besetzte das Gericht selbst.[12]

Kriegsnöte

Die Herrschaft der Habsburger, die seit 1438 mit einer kurzen Ausnahme im Deutschen Reich den Kaiser stellten, bescherte den Wittnauern keinen monarchischen Glanz, dafür erhebliche Kriegsleiden. Schlimm traf es das Fricktal während des Dreissigjährigen Krieges (1618–1648), der in den 1630er-Jahren bei uns wütete. Der Wittnauer Pfarrer Johann Suter brachte zahlreiche wertvolle Gegenstände aus der Kirche ins eidgenössische Kienberg in Sicherheit. Viele im dortigen Gotteshaus gelagerten Gegenstände aus benachbarten fricktalischen Pfarreien fielen einem Brand zum Opfer, darunter zwei Kaseln (liturgische Obergewänder des Priesters) aus Wittnau.

Das Wittnauer Gotteshaus erlitt durch die Kriegswirren Schäden, kam aber im Vergleich zu anderen Fricktaler Kirchen glimpflich davon. Der 1635 verfasste Bericht des bischöflichen Visitators Thomas Henrici spricht von kaputten Fenstern. Zwei  Altäre waren entweiht und der dritte an einem „so unzweckmässigen Ort, dass an diesem kaum zelebriert werden“ konnte. An eine Restaurierung der Kirche war wegen fehlender Mittel nicht zu denken – die von Pest und Krieg gegeisselte Bevölkerung konnte und wollte der Kirche keine Abgaben mehr entrichten.

Kriegsschäden erlitt auch das Pfarrhaus. In ihm wohnten 1635 ausser dem Seelsorger auch dessen Bruder und zwei Schwestern. Die Beherbergung und Verköstigung durch Pfarrer Suter bewahrte sie vor dem Bettelstab. Suter, zur Zeit der Visitation Henricis 44 Jahre alt, hinterliess auf diesen einen zwiespältigen Eindruck. Er soll früher eine Konkubine und Kinder gehabt haben, die er dann weggeschickt habe, erfuhr Henrici. Geistliche der Umgebung bemängelten die „geringe Standfestigkeit“ des Wittnauer Pfarrers, besonders wenn er Wein getrunken hatte.[13]

Vielleicht sprach ihm der Wittnauer Tropfen besonders zu. Wie in fast allen Fricktaler Gemeinden wurde auch hier seit Jahrhunderten Wein produziert. Erstmals werden in Wittnau 1524 Reben erwähnt. Es gab die Klosterreben, deren Ertrag den Patronatsherrn bzw. den Pfarrer erfreute. 1775 wuchsen in der Vogtei Reben auf einer Fläche von gut 11 Hektaren.[14] Die grosse, u.a. durch Krankheiten und billige Importweinen verursachte Rebbaukrise liess vor rund 100 Jahren auch in Wittnau die Rebgüter schrumpfen. Der 1978 gegründete Weinbauverein begann mit der Neupflanzung von Weinstöcken. Heute beträgt die Rebfläche etwa 7 Hektaren.

Die Dorfkirche

Das St.-Martins-Patrozinium lässt eine hochmittelalterliche Kirchengründung vermuten. Erstmals fassbar wird das Wittnauer Gotteshaus im Zusammenhang mit der um 1185 gestifteten Jahrzeit der Homberger Grafen. Diese verlangten von den Vikaren der Kirchen von Oeschgen, Frick, Herznach, Wölflinswil und Wittnau, sich alljährlich im Fricker Gotteshaus zu versammeln und für die verstorbenen Familienmitglieder zu beten. Ob das Geschlecht Homberg-Tierstein die Wittnauer Kirche gestiftet hat, ist nicht feststellbar. Als Patronatsherren von Wittnau besassen sie die Kollatur. Diese erlaubte den Grafen, bei einer Neubesetzung der Seelsorgerstelle dem Bischof einen Geistlichen vorzuschlagen. Zehntabgaben der Pfarreiangehörigen dienten der Besoldung des Pfarrers und dem Unterhalt von Chor und Pfarrhaus. Für Schiff und Turm hatte die Gemeinde zu sorgen. 1316 gelangte das Patronatsrecht an das Kloster Beinwil, das 1648 nach Mariastein verlegt wurde.

Die mittelalterliche Kirche samt Pfarrhaus fiel 1462 einem Brand zum Opfer. Die Vogtei Wittnau und das Kloster Beinwil bauten ein neues Gotteshaus, dessen Sakristei sich erhalten hat. Nun setzte das Kloster Mönche als Seelsorger ein, die den Titel Propst führten. Wittnau war eine Propstei geworden. Im Pfarrhaus hielten sich oft mehrere Beinweiler Mönche zur Erholung auf. Einige fanden in der Kirche ihre letzte Ruhestätte.

Die nach dem Brand erbaute spätgotische Kirche überstand, wie oben beschrieben, den Dreissigjährigen Krieg einigermassen gut. Doch wurde sie im Laufe der Zeit für die wachsende Bevölkerung zu klein. Gebäude und Innenausstattung waren schadhaft, der Altar zerfiel. 1760 bewilligte der Bischof den Bau eines neuen Gotteshauses, dessen Weihe 1776 stattfand.

Als 1798 französische Truppen die Nordwestschweiz besetzten, flüchtete der Mariasteiner Abt mit mehreren Mönchen nach Wittnau. Im imposanten Pfarrhaus fanden sie Asyl. Im 19. Jahrhundert endete auf Drängen „Aaraus“ die Ära der klösterlichen Patronatsherren. 1872 erhielten die Wittnauer die Kollatur und das Nutzungsrecht am Klostergut (inkl. Pfarrhaus), das vorderhand noch Eigentum Mariasteins blieb. 1873 wählte die neu geschaffenen Wittnauer Kirchgemeinde erstmals ihren Pfarrer.

Geförderte Auswanderung

Die Ergebnisse einer 1768 durchgeführten Volkszählung zeigen, dass in der Landschaft Fricktal Wittnau als ein vergleichsweise stattliches Dorf dastand. Mit seinen 501 Einwohnern war es gleich gross wie Wölflinswil und der Marktflecken Frick mit 498 bzw. 495 Einwohnern. Die beiden Dörfer Gipf und Oberfrick zählten zusammen 588 Menschen. Eine Generation später, 1803, stand Wittnau mit 681 Einwohnern hinter Frick (733) und Gipf-Oberfrick (733) als drittgrösste Gemeinde da.[15] Wenn auch die Zahlen dieser Erhebungen mit  Fehlern behaftet sein mögen, so deuten sie doch auf ein im 18. Jahrhundert stattgefundenes Wachstum der Gemeinde hin. Dazu passt der Bau einer grösseren Kirche 1765. Eine Friedensperiode und die zahlreichen Bemühungen des österreichischen Staates unter Kaiserin Maria Theresia (reg. von 1740–1780) und ihrem Sohn Kaiser Joseph II. (reg. von 1780–1790) zur Hebung des Volkswohls bildeten gute Voraussetzungen für ein Bevölkerungswachstum nicht nur in Wittnau, sondern im ganzen Fricktal.

1850 erreichte die Wittnauer Bevölkerungszahl einen Höchststand; damals lebten im Dorf 939 Menschen. Wittnau folgte damit einem allgemeinen Trend: In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war ein markantes Bevölkerungswachstum in Europa ein verbreitetes Phänomen, verursacht durch die Industrialisierung sowie eine bessere Ernährung und Fortschritte in der Medizin. Der Aargau selbst verzeichnete von 1798 bis 1850 gar einen Anstieg der Einwohnerzahl um 66 %!

1844 bezeichnete Franz Xaver Bronner in seiner zweibändigen Beschreibung des Aargaus Wittnau als ein „ansehnliches Dorf“ mit „fruchtreichen Feldern“ auf denen „treffliches Getreide“ wächst. Zudem lobte er den guten Wein. Die Menschen wohnten in 111 Häusern, wovon noch immer 45 ein Strohdach aufwiesen.

In den 1850er-Jahren schrumpfte die Wittnauer Einwohnerzahl um 13 % auf 819. Was war geschehen? In der Mitte der 1840er-Jahre kam es in der Schweiz und in Europa u.a. aufgrund von wetterbedingten Missernten zu einer wirtschaftlichen Krise, ja sogar zu Nahrungsmittelengpässen. Viele Menschen wanderten nach Übersee aus. In den 1850er-Jahren verliessen 10 % der Bevölkerung den Bezirk Laufenburg, darunter auch viele Wittnauer.[16] Die Gemeinde drängte verarmte und unterstützungsbedürftige Bürger zur Auswanderung und stellte ihnen Geld für die Reise zur Verfügung. Dies kam billiger, als die Armengenössigen über Jahre hinweg zu betreuen. So vermerkt das Gemeindeversammlungsprotokoll vom 23. Juni 1850: „(…) wenn man die jährlichen Unterstützungen rechne, und noch dazu, dass sich diese Leute vermehren und zu gar nichts kommen, so sei denselben doch für sie und ihre Nachkommen [durch die Auswanderung] ein besseres Los eröffnet“. Im selben Jahr wurde das südöstlich der Kirche gelegene alte Schulhaus zum Armenhaus, wo bedürftige Bürger eine Unterkunft fanden. Bis 1937 war das Armenwesen Aufgabe der Ortsbürgergemeinden, seither fällt es in die Kompetenz der Einwohnergemeinden. 1958 wurde das Armenhaus abgebrochen.

Der durch die wirtschaftliche Krise und die Auswanderung verursachte Rückgang der Wittnauer Einwohnerzahl glich sich im kommenden Jahrzehnt noch nicht aus. Doch 1880 lebten im Dorf wieder rund 900 Menschen. Viele von ihnen fanden einen Verdienst in der Bandweberei, der Posamenterei.

Die Heimposamenter

Im 19. Jahrhundert hielt im Dorf die Posamenterei Einzug und entwickelte sich zu einem immer bedeutenderen Gewerbe. Wittnau profitierte von der starken Stellung der Textilindustrie in der Region Basel. In immer mehr Stuben woben Wittnauerinnen und Wittnauer auf klappernden Webstühlen Stoffbänder. Auftraggeberinnen waren vor allem Firmen aus dem Baselbiet. Ihre Boten brachten den Heimarbeitern Aufträge und das benötigte Rohmaterial und nahmen die fertige Ware mit. 1909 wurde im Dorf gar eine Posamenterschule eingerichtet. 1908 standen in Wittnau 105 Webstühle, um 1920 zählte man sogar rund 150! Die meisten Posamenter betrieben nebenbei noch eine kleine Landwirtschaft.

Änderungen in der Mode und der Erste Weltkrieg führten zu einem Nachfragerückgang für Seidenbänder. In der Zwischenkriegszeit erfolgte ein neuer Aufschwung und während des Zweiten Weltkriegs wob man Verbandstoffe, Binden und Gasmaskenriemen, später Reissverschlussbänder. Doch die Tage der Heimposamenterei neigten sich dem Ende zu. Rosa Brogli, die letzte Seidenbandweberin Wittnaus, ja sogar des Fricktals, setzte sich 1981 zur Ruhe.

Die Posamenterei beschleunigte in Wittnau die Einführung der Elektrizität. In der 1904 gegründeten „Commission über die Einführung von elektrischer Kraft“ drängten die Vertreter der Heimarbeiter auf einen schnellen Anschluss der Gemeinde an das sich im Aufbau befindende Sromnetz. Mit Elektromotoren betriebene Webstühle versprachen eine höhere und wirtschaftlichere Produktion und somit mehr Verdienst und Wettbewerbsfähigkeit. 1906 kam es zur Gründung der Elektra Wittnau.

Damals herrschte in Wittnau eine gewisse Aufbruchstimmung. Bereits um 1880 hatte man mit dem Bau eines Trinkwassernetzes die Wasserversorgung modernisiert. Ein Vierteljahrhundert später hielt die Elektrizität Einzug. Ein grosses Anliegen war auch die verkehrstechnische Erschliessung des Dorfes. 1897 wurde der Bau einer Strassenbahn zwischen Frick und Kienberg intensiv diskutiert. Auslöser waren die Gipstransporte vom Kienberger Bergwerk zum Bahnhof Frick. Die schweren Fuhrwerke machten die Wittnauer Hauptstrasse vor allem bei Regenwetter fast unbegehbar. Die Verlagerung der Gipstransporte auf die Bahn sollte Abhilfe schaffen. Aus finanziellen Gründen blieb es bei der Idee. Nicht anders erging es den Plänen des 1910 mit Wittnauer Beteiligung gegründeten Eisenbahnkomitees

Fit für die Zukunft

Wie alle anderen Ortschaften der Umgebung hat Wittnau im vergangenen Jahrhundert einen rasanten Wandel durchgemacht, der nach einem steten Ausbau der örtlichen Infrastruktur verlangte: Wasserversorgung, Abwasseranlagen, Schul- und Verwaltungsgebäude, Strassen und anderes mehr mussten erstellt oder den neuen Bedürfnissen angepasst werden. Ein Grossprojekt war die zwischen 1977 und 1997 durchgeführte Güterregulierung, Grundlage für eine moderne Landwirtschaft. Fast 40 Kilometer Flur- und 28 Kilometer Waldwege wurden erstellt. Nach der Neuordnung des im Laufe der Jahrhunderte durch Erbteilung sowie Kauf- und Verkauf zerstückelten Landes gab es noch 473 statt wie bisher 2170 Parzellen.

In der während Jahrtausenden dominanten Landwirtschaft sind heute nur noch wenige Bauern tätig. Verdienst finden die Wittnauerinnen und Wittnauer vor allem auswärts. Aus dem Bauerndorf ist ein beliebter Wohnort geworden, was sich auch in der Entwicklung der Einwohnerzahl niederschlägt: In den letzten 30 Jahren wuchs diese um rund 45%

Quellen und Anmerkungen

Nebst den unten stehenden Quellenangaben dienten mir zahlreiche Beiträge im „Adlerauge“ sowie die 1977 erschienene Schrift „Wittnau“ von Karl Schmid als Grundlagen.

Abkürzungen: GLA = Generallandesarchiv Karlsruhe; StAAG = Staatsarchiv Aargau.


[1] Zehnder, Beat: Die Gemeindenamen des Kantons Aargau, Aarau 1991, 472f. u. 512. 

[2] Bis vor etwa 100 Jahren haben auch die Fricker am Frickberg an der Alten Fasnacht Feuerbilder entzündet.

[3] StAAG (Staatsarchiv Aargau): AA 6336. Zum Fricktaler Bergbau vgl. u.a. Metz, Rudolf: Geologische Landeskunde des Hotzenwaldes, Lahr/Schwarzwald 1980, 455–482 sowie Bühler, Rolf: Bergwerk Herznach, Aarau 1986.

[4] Zu den mit dem Eisengewerbe in Verbindung stehenden Flurnamen vgl. Amsler, Alfred: Die alten Eisenindustrien des Fricktals, bei Erlinsbach und in benachbarten Gebieten des östlichen Juras, in: Argovia 1935, 101–157. Amsler stiess im Rotel auf einen ca. 1,5 Meter hohen und etwa 20 Meter langen Schlackenhaufen. Christoph Benz, Wölflinswil, hat hier im Herbst 2011 mehrere Schlackenstücke gefunden (vgl. Bild).

[5] StAAG: AA 6555 bis 6559, Rechnungsbücher des Rentamtes der Herrschaft Rheinfelden 1596–1602. Das Gewicht einer Massel konnte mehrere 100 Kilogramm betragen. Wie schwer die in den kleinen Schmelzen hergestellten Masseln waren, ist jedoch unklar.

[6] StAAG: Regierungsratsprotokoll vom 24.8.1837. Zum Wittnauer Zoll vgl. auch die Einträge im Dezimalregister der Regierungsprotokolle.

[7] StAAG: AA 6336, Ohmgelder.

[8] Generallandesarchiv Karlsruhe: 67/1873.

[9] Aargauische Denkmalpflege: Kurzinventar der Kulturgüter der Gemeinde Wittnau, Aarau 1997 (Exemplar auf der Gemeindekanzlei).

[10] Ebda.

[11] Hüsser, Linus: Blutgerichtsbarkeit und Scharfrichter in der Landschaft Fricktal, in: Frick – Gestern und Heute 2010, 12ff.

[12] Zur Gemeindeautonomie in habsburgischer Zeit vgl. Graf, Walter: Die Selbstverwaltung der fricktalischen Gemeinden im 18. Jahrhundert, in: Vom Jura zum Schwarzwald 1964/65.

[13] Thomas Henrici (1597–1660): Le journal „raisonné“ d’un vicaire générale du diocèse de Bâle, Fribourg 2007, 142f.

[14] Gemäss dem 1775 von Fridolin Garnie erstellten Flurplan (Gemeindekanzlei Wittnau).

[15] Ammann, Hektor; Senti, Anton: Die Bezirke Brugg, Rheinfelden, Laufenburg und Zurzach, Zollikon-Zürich 1948, 57.

[16] Vgl. Wessendorf, Berthold: Die überseeische Auswanderung aus dem Kanton Aargau im 19. Jahrhundert, in: Argovia 1973.